Tagebuch 2016 aus Stockholm

Tagebuch, Teil 1 – 3. Mai 2016

Was hat der erste Probentag gebracht. Ganz vorne zu nennen ist natürlich der Superfavorit Lazarov aus Russland. Er war der Einzige an dem Probentag, der die Bühne und ihr technischen Möglichkeiten wirklich nutzt. Dabei verwischen Realität und Virtualität dermaßen, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Beim ersten Probendurchgang stürzte er aber erst einmal, verletzte sich aber nicht und konnte dann bei der Pressekonferenz alle bezaubern. Optisch überragt wurde er nur von dem Koautor des Beitrages und der Grand Dame des russischen Eurovisionszirkus, Filip Kirkorov.

Finnland mit Startnummer 1 wird es dagegen sehr schwer haben, da sie zu harmlos sind und vergessen werden. Einen ruhigen Pol im bisherigen Starterfeld bieten die Niederlande, die auf ihre ruhige Art positiv herausstechen und damit sicher punkten können. Auch Ungarn war eine Überraschung und der erst kürzlich zum Sänger avancierte Freddie füllt die Bühne aus. Für Griechenland und Moldawien wird es aber schwer werden, obwohl letzterer Beitrag vom gleichen Autorenteam stammt, das auch die russischen Beiträge 2013 in Malmö und 2015 in Wien geschrieben hat. Etwas ganz eigenes ist San Marino. Schade, dass derartige farbtupfernde Beiträge seit Einführung der Halbfinals dem Finalpublikum vorenthalten werden. Heute wird es aber ernst für ZOË. Darüber berichten wird natürlich auch.

Tagebuch, Teil 2 – 4. Mai 2016

Was hat der gestrige Probentag gebracht? Allem Voran natürlich ZOË. Über die österreichische Probe wurde an diesem Dienstag am Heftigstem diskutiert; angefangen von Wien 2017 bis das geht gar nicht. Was viele vermisst haben, ist das Laufband. Aber ohne fühlt sich ZOË aber sicherer auf der Bühne und kann sich besser auf das Lied konzentrieren. Aber egal wie das Halbfinale für Österreich ausgehen wird, ZOË ist sicherlich DER Fanliebling des Jahres.

Aufsehen erregende Inszenierungen wie am Montag gibt es nicht zu vermelden. Island verliert sich in Schattenspielen und imitiert phasenweise die russische Optik. Auch Aserbaidschan hält sich choreographisch zurück, hier ging der erste Probendurchgang komplett in die Hose, insbesondere stimmlich. Zypern rockt ab und Montenegro kehr in die experimentelle Phase a là Malmö 2013 zurück. Estland spaltete die Meinung auch. Vielen gefällt es, aber die Inszenierung im Stile eines Spielcasinos und einer findet weniger Anklang. Das auffälligste Bühnenrequisit, und im Grunde einzige real existierende des Tages, ist ein Stacheldrahtzaun, der das bosnisch-herzegowinische Gesangsduo trennt. Diese Symbolik soll aber wirklich die aktuelle Flüchtlings- und Grenzkontrollsituation in Europa aufgreift.

Der Ausreißer des Tages war dann noch die vorgezogene Probe Schwedens. Als Begründung wurde der schwedische Jugendschutz angegeben, da Frans am nächsten Tag ja wieder nach Südschweden in die Schule muss. Die Inszenierung ist für schwedische Verhältnisse ungewohnt. Kein technische Equipment, sondern nur Lichteffekte. Mehr vom Mittwoch-Probentag dann noch heute Abend oder morgen Vormittag. 

Tagebuch, Teil 3 – 4. Mai 2016

Was brachte der dritte Probentag. Kurz gesagt natürlich die ersten 10 Starter im zweiten Halbfinale. Den Anfang machte das rot-weiß-rote Lettland mit einer stimmlich und optisch überzeugenden Darbietung. Eine gute Endplatzierung im Finale ist hier nicht unwahrscheinlich. Polen bietet dann die klassische, dramatische und streichergetragene Eurovisionsballade. Auffällig ist hier nicht nur seine wallende Lockenpracht, ob der so manche Frau neidisch ist, sondern auch seine markanten Augen. Wenn er sich im Halbfinale dann noch anständig kleidet, sollte auch er eine realistische Finalchance.

Für die Schweiz schaut es trotz blauer (angeblich ein sog. Zürichseeblau) Frisur sehr, sehr schwer werden. Aus Israel kommt die große Diva. Der offen schwule Sänger Hovi hat als Vorbild Dana International und will sich mit seiner Teilnahme für die Schwulenrechte einsetzen. Der Weißrusse wollte ja eigentlich nackt mit einem Wolf auf die Stockholmer Bühne. Die EBU sah das aber anders, so ist beides anfangs nur kurz virtuell zu sehen. Mit einem anderen Blickfang hört das Lied dann auf, einem in Windeln daherwackelndem Baby. Serbien bietet im Grunde den typischen Balkanbrummer in Molitva-Choreograhie, nur das leider auf Englisch gesungen wird.

Irland bietet den wohl international bekanntesten Sänger des Jahres auf, immerhin kann Nicky Byrne als Westlife-Mitglied schon auf beachtliche Erfolge zurückbleiben. Mit so einem Star ist Irland im Grunde zum Finale verpflichtet. Stimmlich ist übrigens live besser, als uns prophezeit wurde.

Mazedonien ist einfach Kaliopi, die dazu erkoren wurde, die Eurovisionsehre FYROMs zu retten. Stimmlich ist sie grandios, während über die Finaltauglichkeit hier die Meinungen sehr divergieren. Die vorletzte Probe des Tages absolvierte Litauen. Donny Montell, der ebenso wie Kaliopi schon 2012 dabei gewesen ist, ist seither sichtlich gereift, hat seinen markanten Blick nicht verloren. Statt eines einarmigen Handstandes legt er diesmal einen Salto vom Trampolin aus auf die Bühne. Den Probentag beendete Down Under. Die Favoritin auf den Halbfinalsieg absolviert den ersten Teil des Liedes auf einem schwarz-glitzerndem Podest, liegend und sitzend. Eine ernsthafte Konkurrenz des russischen Sieges stellt sie aber nach aktueller Meinungslage nicht dar.

Morgen wird dann die erste Probenrunde beendet werden. Da Rumänien nicht teilnehmen darf, stehen also noch acht Halbfinalisten aus. 

Tagebuch, Teil 4 – 5. Mai 2016

Heute ist es Zeit für die letzten acht Halbfinalproben. Den Anfang machte Slowenien. Hier ist leider der Chor nicht mit auf der Bühne, dafür schwingt ein muskulöser Oberkörper an einem Schwenkarm. Diese Inszenierung ist aber insgesamt schwächer als diejenige bei der Vorentscheidung. Dann wäre eigentlich Rumänien an der Reihe gewesen, wegen deren kurzfristiger EBU-Suspendierung war dem aber nicht so. Ovidius Beitrag „Sound of Silence“ schallte trotzdem durch das Pressezentrum.

Moldawiens Lidia sang es mit einem Pressechor. Das Original wäre uns aber lieber gewesen. Statt mit Rumänien ging es aber gleich weiter mit Bulgarien. Poli lieferte eine stimmige Darbietung mit Chor auf der Bühne und gegen Ende hin leuchtenden Reflektorstreifen an Armen und Beinen. Dieser Effekt ist aber nicht zwingend notwendig. Dann kam die Reihung wieder durcheinander und Dänemark wurde vorgezogen. Das Schauspielertrio gab einen harmlosen Boygroupauftritt zum Besten.

Nun war es Zeit für den inhaltsschwangeren ukrainischen Beitrag. Peppig ist der Beitrag immer noch nicht, wurde aber optisch mit einem wachsenden Lichtbaum hübsch dargeboten. Für einen volleren Klang wurde das Arrangement in der Schlussphase noch um eine Streicheruntermalung angereichert.

Nach der Pause, die Schweden achten hier streng auf die Arbeitsvorschriften, probte Norwegen. Die haben sich dafür entschieden, eine überflüssige Gymnastiktante auf ein Podest zu stellen. Georgien vergessen wir gleich, die übertriebenen Spiegleeffekt verursachen Augenschmerzen. Albanien verliert sich in musikalischer und darbieterischer Nichtigkeit und zum Schluss beendet Belgien das zweite Halbfinale noch versöhnlich. Die junge Laura verwandelt mit ihrem tanzenden Chor die Bühne noch in eine Disco. So verschläft man wenigstens die Abstimmungszeit nicht.

Russland bleibt meiner Meinung bisher der unangefochtene Favorit. Morgen und Übermorgen werden die beiden Halbfinals dann noch einmal in Rekordzeit durchgeprobt und dann beginnen die BIG5. Vielleicht ist dort noch Konkurrenz versteckt. 

Österreichs zweite Probe (Tagebuch, Teil 5) – 6. Mai 2016

Im Vergleich zur ersten Probe hatte der ORF ein paar Änderungswünsche, die die Schweden fast alle erfüllten, z.B. was die Ausleuchtung angeht. ZOË dreht neuerdings einmal tänzerisch im Kreise, was eine durchaus erfrischende Einlage darstellt. Dazu wogten wieder die Blumen in der Monty Python – Yellow Submarine – Optik sanft über den Hintergrund. An ihrem Kleid werden auch noch ein paar Anpassungen vorgenommen werden. In der Pressekonferenz trug sie aber ein fesches Dirndl, wenn auch kein traditionelles. Der Stoff ist aus der Provence und stellt somit eine passende österreich-französische Symbiose dar.

Mit der Probe zeigte sie sich zufrieden. Dass sie sich zwischendrin verhaspelte lag nicht aber nicht an einer vermeintlichen Nervosität, sondern an ihrer Müdigkeit. Auch das fünfzigjährige Jubiläum des ersten österreichischen Sieges verunsichert sie nicht. Sie denkt weder an Udo, noch an Conchita. Sie gibt einfach ihr Bestes und würde sich über ein gutes Ergebnis freuen.

Mit der Sprachwahl sind in Österreich wohl nicht alle zufrieden, v.a. diejenigen, welche ihr deutschsprachiges Land selbstverständlich englisch vertreten sehen möchten. Aber wie sie zu Recht anmerkte: Englisch ist nicht die einzige Sprache, in der man singen darf.

Ihr persönliches Paradies hat sie gerade gefunden, denn sie liebt es auf der Bühne zu stehen. Jeder hat aber wohl mehrere Paradise gleichzeitig. Den Abschluss der Pressekonferenz krönte dann eine gitarrenbegleitete Akkustikversion von „L’oin d’ici“. 

Tagebuch, Teil 6 – 8. Mai 2016

Welche Erkenntnis brachte das Ende der Proben? Russland wird immer noch als der unangefochtene Favorit gehandelt. Frankreich hat seinen Auftritt durch mehrer kleine Änderungen runder und somit aussichtsreicher gestaltet. Die Ukraine stieg in der Gunst der Buchmacher in die absolute Spitzengruppe auf. Sollte es hier zu einem Duell kommen, wäre die Reaktion, auch unter Berücksichtigung des ukrainischen Liedinhaltes, im Saalpublikum sehr interessant.

Australien und Schweden werden nach herrschender Meinung ebenfalls weit vorne landen, aber nicht siegen, während das Gros der Lieder sich jenseits Top 5 um die Plätze rangeln darf. Einer der Favoriten auf den letzten Platz im Finale ist mal wieder das Vereinigte Königreich. Die Jungs sind nett, aber sehr harmlos. Italien bekommt sicher mehr Punkte, trotz Plastikgartens auf der Bühne. Schwer zu verstehen sind zwei dramatische Pausen. Der gespielte Sturz der Spanierin und die zehnsekündige Stillepause, die die Niederlande einlegen. Beides hinterlässt eher mehr Fragen, als dass der Sinn der Einlagen vermittelt werden kann. Nicht einmal die spanische Delegation selbst kann dies.

Einer der Beiträge die mit den Proben gewonnen haben, ist Belgien. Dessen Chancen auf den Finaleinzug sind auf Grund der direkt zuvor startenden Beiträge und der lebhaften Inszenierung deutlich gestiegen, würde im Finale aber wohl untergehen.

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Auch Polen überzeugt live sehr. Als sichere Ausscheidenskandidaten gelten dagegen die Schweiz (letzter Platz?), San Marino und Montenegro. Die beliebte Kaliopi aus Makedonien und das irische Westlife-Mitglied werden es aber wohl schwer haben in die Top 10 ihres Halbfinales zu kommen. Und was ist mit den rot-weiß-roten Farben? Die von Lettland überzeugen im zweiten Semi und haben Potential nach oben. Österreich gehört dagegen trotz aller Beliebtheit in weiten Pressezentrumkreisen nicht zur sicheren Finalbank. ZOË dagegen reiht sich unter die Kandidaten ein, die auf Messers Schneide stehen, wie die Hälfte aller Lieder im ersten Semifinale. Das Bangen hat aber erst am Dienstag kurz vor Mitternacht ein Ende.

Bis dahin scheint aber die Sonne und man die Stadt besichtigen oder im Eurovillage andere Fans treffen.

Österreich hat das Finale erreicht (Tagebuch, Teil 7) – 10. Mai 2016

Mit dem sechsten Umschlag kam die Erlösung für ZOË, die österreichische Delegation und die rot-weiß-roten Eurovisionsfans. Loins d’ici wird auch im großen Finale am Samstag zu hören sein. Ebenso wie die Beiträge aus Armenien, Aserbaidschan, Zypern, Ungarn, Malta, die Niederlande und der russische Favorit.

Kroatien ist erstmals seit 2009 wieder und Tschechien im fünften Versuch das allererste mal. Griechenland und Bosnien-Herzegowina blieben bisher noch nie im Halbfinale hängen und feierten so gesehen auch eine Premiere. San Marino, Island, Estland, Moldawien, Finnland und Montenegro hat das Schicksal bereits auch in der Vergangenheit ereilt.

Tagebuch, Teil 8 – 12. Mai 2016

Das unglaubliche ist war. Der nordische Block ist komplett ausgeschieden. Im zweiten Halbfinale sind nun auch Norwegen und Dänemark sind draußen. Allenfalls das um das Baltikum erweiterte Skandinavien ist nun mit Lettland und Litauen vertreten. Ebenfalls das Finale verpasst hab die bei den Fans so beliebte Kaliopi aus Mazedonien, die fröhlichen Slowenen und der weißrussische Nackedei. Wenig überraschen waren das Ausscheiden Albaniens sowie auch der beiden ehemals führenden Eurovisionsnationen Schweiz und Irland, letzteres mit einem Westlife-Star.

Neben den beiden Balten hat auch noch die große polnische Liebeshymne, Israel, Serbien, Belgien, und erst zum zweiten mal nach 2007 Bulgarien die Finalehre erreicht. Das georgische Finalticket wurde in der Halle wenig begeistert aufgenommen; umso mehr die für die zum Mitfavoriten gemauserte Ukraine und den anderen Kandidaten für einen Spitzenplatz: der fünfte Kontinent Australien.

Die Startreihenfolge wird in den nächsten Stunden festgelegt sein und morgen Nachmittag beginnen dann schon die Proben für das Finale.

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